Selbstverletzung – wenn die Seele schreit

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Selbstverletzung - Hilfeschrei der Seele

Ein Kommentar zu selbstverletzendem Verhalten

Wer mit Jugendlichen zu tun hat, sei es privat oder beruflich, wird häufig früher oder später mit dem Phänomen des „Ritzens“ konfrontiert. Oftmals wird das schnell bewertet bzw. die betreffenden Jugendlichen in eine Schublade gepackt, die sich je nach Vorbildung des Urteilenden ein bisschen unterscheiden kann. Die häufigste Erklärung, die mir begegnet ist, war die, dass damit seitens der Jugendlichen bewusst Aufmerksamkeit erzeugt werden soll (häufig in Kombination mit der vermeintlichen Lösungsstrategie nun eben diese Aufmerksamkeit gerade nicht zu geben). Bei Menschen, die beruflich bereits mit psychiatrischen Diagnosen in Berührung gekommen sind, wird das Selbstverletzende Verhalten dann oft in der Kategorie Borderline-Persönlichkeitsstörung eingeordnet (aber auch das meist ohne eine anständige Diagnostik, die die These überprüfen würde).

Die Gründe sind höchst unterschiedlich

Tatsächlich sind mir (vermutlich auch aufgrund meiner eigenen Geschichte) schon einige Menschen mit aktuellem oder früherem Selbstverletzenden Verhalten begegnet. Und in der Konsequenz fast ebenso viele unterschiedliche Gründe oder Ursachen, wie Betroffene. So wie es nicht den einen Grund gibt, weshalb jemand regelmäßig zu viel Alkohol trinkt, oder zu jedem Termin zu spät kommt, so gibt es in meinen Augen nicht DEN Grund für Selbstverletzendes Verhalten.

Auch die Ausprägungen sind höchst unterschiedlich

Grundsätzlich umfassen Selbstverletzungen ein weites Feld und zwar sowohl was die Ursachen als auch was die Intensität, die Häufigkeit und die Art angeht. Manche davon sind gesellschaftlich anerkannter als andere oder fallen wesentlich weniger auf, als das typische „Ritzen“. Beispielsweise kann exzessives Sport treiben abhängig von der Motivation und der Ausprägung eine Form von Selbstverletzung darstellen, auch wenn diese häufig kaum sichtbare Spuren hinterlässt und von außen teilweise sogar eher für die Disziplin bewundert wird. Eine weitere, zumindest anfangs eher unauffällige Variante ist das bewusste Ausreißen der eigenen Haare, wie es eine frühere Klassenkameradin von mir machte. In gewisser Weise steckt auch in Erkrankungen wie Magersucht oder Bulimie ein Teil, in dem es in erster Linie darum geht , sich selbst zu verletzen, auch wenn hier noch weitere Aspekte zum tragen kommen. Sich zu verletzen kann bis zu einem gewissen Grad eine Möglichkeit sein, die eigene körperliche Belastungsgrenze auszutesten und kennenzulernen. Auch kann das eigene Ausprobieren eine Reaktion darauf sein, dass andere Jugendliche sich verletzen und dies neugierig macht. Menschen, die mit Gruppen von jungen Mädchen zu tun haben in denen das Thema schon einmal auftauchte, werden vielleicht schon damit konfrontiert worden sein, dass das „Ritzen“ dadurch vorübergehend um sich greifen kann. In beiden Fällen verschwindet das Selbstverletzen aber – zumindest meiner Erfahrung nach –  nach einer Weile auch wieder.

Wann Hilfe angesagt ist

Schwieriger wird es, wenn Selbstverletzung einen Versuch darstellt, mit Emotionen umzugehen, die anders nicht verarbeitet werden können. Auch hier lässt sich aus dem Verhalten an sich nicht schließen, was genau das zugrundeliegende Problem ist. In meinem Fall war es die Reaktion auf langjährige körperliche, psychische und sexuelle Gewalt, die mich durch meine Kindheit und Jugend begleitet hat und in mir regelmäßig einen inneren Schmerz in einer Intensität ausgelöst hat, an dem ich zerbrochen wäre, hätte ich nicht für mich diesen „Ausweg“ gefunden. Durch den selbst zugefügten äußeren Schmerz konnte ich den Fokus darauf verschieben und den inneren Schmerz dafür ein Stück weit abspalten. Manche Jugendliche leiden auch unter einem Gefühl der inneren Leere, die sich für sie nur durch Schmerz füllen lässt. Bei wieder anderen stellt die Selbstverletzung vielleicht tatsächlich eine Möglichkeit dar, nach außen zu kommunizieren, dass sie mit einer bestimmten Situation überfordert sind und Hilfe brauchen.

Meiner Meinung nach steckt in der Regel, zumindest wenn es sich um wiederkehrende und tiefer werdende Verletzungen handelt, die sich selbst zugefügt werden, eine große Verzweiflung dahinter. Gerade wenn das „Ritzen“ länger als Strategie angewandt wird, entwickelt sich daraus in der Folge zudem häufig ein gewisser Suchtcharakter, der sich aus der Ausschüttung von Opiaten ergibt, mit der der Körper naturgemäß auf Verletzungen reagiert. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit auf großen Stress mit Selbstverletzung zu reagieren immer größer, während gleichzeitig auch die negativen Konsequenzen zunehmen.

Wenig hilfreiche Reaktionen von außen

Gerade dadurch, dass ein solches Verhalten nach außen eher unverständlich wirkt und Betroffene rasch verurteilt werden wird es immer schwieriger, sich in belastenden Situationen Hilfe zu holen und so vielleicht darauf verzichten zu können. Dieses Phänomen habe ich im Laufe meines Lebens vielfach sowohl durch völlig fremde Menschen als auch durch „geschulte Fachkräfte“ erlebt. Bis ich Anfang 20 war, wurde ich mehrfach von fremden Menschen in der Öffentlichkeit auf meine Narben angesprochen und wiederholt auch angefasst – häufig von älteren Damen – und meist in Kombination mit einem sicher nett gemeinten, aber von mir als völlig übergriffig empfundenen „Ach Kindchen, das machst du aber nicht mehr!“ Auch im professionellen Rahmen ist meiner Erfahrung nach bei manchen Ärzten übergriffiges Verhalten eher die Regel, als die Ausnahme, wenn sie mit Selbstverletzungen konfrontiert werden. Als Jugendliche hatte ich häufig Angst die Wunden medizinisch versorgen zu lassen, weil mir in der Notaufnahme von Unverständnis bis hin zu offener Aggression fast jede mögliche Reaktion entgegengebracht wurde. Ein genervtes „wir haben hier genug richtige Patienten“ war eher noch die nette Variante, während es auch Ärzte gab, die während der gesamten Behandlung kein Wort mit mir sprachen und ich mehrfach ohne Betäubung genäht wurde mit den Worten „wenn Sie sich selbst verletzen, dann können Sie das ja jetzt auch aushalten“. Regelmäßig stand hinterher im Arztbericht des Chirurgen die Diagnose „Selbstverletzung bei vorliegender Borderline-Störung“, ohne dass ich etwas Vergleichbares mit einem Wort erwähnt hätte und obwohl eine solche Persönlichkeitsstörung ausschließlich von einem Psychiater und ebenso ausschließlich im Rahmen einer fundierten Diagnostik gestellt werden darf!

Umsichtiges Verhalten ist eine erste Hilfe  

Selbstverletzung scheint meiner Erfahrung nach sowohl bei Laien als auch bei Fachleuten ein hoch emotional besetztes Thema zu sein, bei dem oftmals viele verschiedene Komponenten undifferenziert in einen Topf geworfen werden. In gewisser Weise kann ich das verstehen, wirkt es doch nach außen völlig unlogisch und lässt die Menschen drum herum oft genug mit einer gewissen Hilflosigkeit zurück.

Trotzdem ist das Problem zu vielfältig, als dass es sich mit einer einfachen Begründung erklären ließe und wer wirklich helfen will, dem kann ich nur ans Herz legen offen und unvoreingenommen den Kontakt und das Gespräch  zu suchen. Denn in den meisten Fällen ist die Verletzung ein Versuch ein inneres Problem zu lösen und wer nicht vorschnell bewertet, sondern sich die Zeit nimmt, mit Offenheit und Respekt ins Gespräch darüber zu gehen, kann hier einen wertvollen Beitrag zur Lösung leisten.

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