Ist LRS oder eine andere Diagnose therapiebedürftig?

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Tore bleiben zu bei einer Diagnose

Was eine Diagnose wie LRS und Therapien bei Kindern anrichten kann

Ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung, der ein neues Therapie-Institut in München belobigt und bewirbt hat mich – wieder – zu diesem Thema geführt.

In unserer Gesellschaft herrscht die Idee, alles in Schubladen zu packen. Für alles gibt es Klassifizierungen. Was bei Produkten evtl. noch sinnvoll sein KANN, führt bei Lebewesen ins Absurde. Wozu braucht es diese Einordnungen? Um auszusortieren? A-Ware, B-Ware?

Richtig allergisch reagiere ich, wenn Kinder klassifiziert werden (im doppelten Sinn ;) ). Diese Stempel (Diagnosen), die sie bekommen schaden in den meisten Fällen mehr, als sie nutzen.

Die Idee sollte wahrscheinlich sein, dass Kinder dann adäquate Förderung bekommen oder von ihnen nicht zu sehr verlangt wird, was sie nicht leisten können. Diese Haltung finde ich äußerst gefährlich…

Ich möchte hier die Diagnose „LRS“ beispielhaft behandeln, da mir immer wieder Artikel darüber über den Weg laufen…. Auch zu anderen „Stempeln“ habe ich meine ganz eigenen Ansichten. Wenn ich intensiv nachdenke, habe ich noch keine positive Wirkung eines Stempels bei einem Kind/Jugendlichen erleben dürfen.

Was diese Stempel machen

Kinder und Jugendliche müssen sich aufwändigen Diagnostiken unterziehen und Aufgaben erfüllen, die an eine Prüfung erinnern. Oft wissen die Kinder, was davon abhängt und fühlen sich unter Druck. Wie kann da eine vernünftige Diagnose gestellt werden? Selbst wenn die Situation „spielerisch“ aufbereitet wird, ist es eine sehr spezielle Situation.

Richtig fragwürdig wird es, wenn Laien die „Diagnose“ stellen. Auch wenn von Instititutionen Diagnosen eingefordert werden, hat das Kind schon einen Stempel vorab. Es weiß, dass etwas nicht mit ihm stimmt, dass es zu langsam, zu verträumt, zu laut, zu quirlig, zu anstrengend, zu schlecht…. ist. Dazu empfehle ich dringenst das Buch von Heidemarie Brosche „Mein Kind ist genau so richtig, wie es ist.“

Ich erlebe immer wieder, wie „gestempelte“ Kinder sich selbst nichts mehr zu trauen. Eine kleine (wahre) Geschichte: Ein Schüler erklärte mir, dass er nicht schreiben müsse, er hätte Legasthenie. Ich schaute ihn verwundert an, beglückwünschte ihn und fragten, was ich mit dieser Information anfangen sollte. Ich muss nicht schreiben, gäbe es bei mir nicht! Wer sich nicht sicher ist, wie etwas geschrieben wird und es gerne „richtig“ machen möchte, könne sich jederzeit an mich wenden. Ich schreibe es gerne vor, oder buchstabiere es, aber diese Aussage lasse ich nicht gelten. Der Schüler war ziemlich perplex und musste diese Ansage erst einmal verdauen. Ich ließ ihm die Zeit. Nicht viel später sah ich, wie er einem jüngeren Schüler half ein schwieriges Wort zu schreiben. Er buchstabierte es, OHNE Fehler. Dieses Erlebnis setzte einige Gedanken bei mir in Schwung…

Diese Kinder finden sich mit ihrem Makel ab. Sie trauen sich nichts mehr zu, sie fordern sich nicht, sondern „ruhen“ sich auf ihrem „Nicht-leisten-können-weil-krank“ aus. „Ich muss das ja nicht können, ich hab ja….“ oder: „Ich bin halt einfach schlecht/blöd/dumm.“ – Wie schrecklich und schade!

Auch von Erwachsenen wird ihnen nichts mehr zugetraut. „Ah… das Kind kann nicht, es hat ja….!“ – Wie furchtbar!

Ich möchte gerne, dass jeder Mensch individuell gesehen wird. Share on X

In seiner eigenen Entwicklung. Mit seinen eigenen Neigungen und seinen Vorlieben. Ich wünsche mir, den Kindern und auch den Pädagogen und Eltern Entspannung in diesen Themen. Zeit zum beobachten, Zeit zum lernen, Zeit für Zuwendung, Zeit zum entwickeln. Wertschätzung für alle.

Warum müssen alle im gleichen Alter, alles zur gleichen Zeit und in der gleichen Geschwindigkeit machen?

Meine Idee, wie es zu diesen diagnosewürdigen Verhaltensweisen kommt

Aus der Gegebenheit heraus, dass ständig verglichen wird, wie weit Kinder in einem bestimmten Alter sind, fallen individuelle Unterschiede natürlich auf. Das alleine wäre ja gar nicht weiter schlimm, auch wenn ich gegen das direkte Vergleichen in der Entwicklung bin. Doch dann beginnen wir zu werten. – Nach Maßstäben, die irgendwie einmal festgelegt wurden. Vielleicht auch noch nach einem Mittelwert. Das kann keinem Individuum gerecht werden!

Ebenso wenig wird 28 Kindern in einer Klasse der selbe Lernstoff in der selben Methode zum selben Zeitpunkt in der selben Geschwindigkeit gerecht.

Eine Diagnose, wie LRS, Legasthenie oder Dyskalkulie resultiert meiner Ansicht daher, dass entweder Zeitpunkt, Zeitspanne oder Methode nicht zu diesem Kind passten, als der Lernstoff vermittelt wurde. Evtl. war auch die Beziehung zum „Vermittler“ gestört, oder andere Einflüsse lenkten die Aufmerksamkeit des Kindes zu stark ab (familiäre Themen, Krankheit). Organische Beeinträchtigungen (Hör- und Sehleistung) sind vorher abzuklären!

  • Geht es für ein Kind evtl. zu schnell, verliert es den Anschluss und ihm fehlen wichtige Grundlagen um im nächsten „Stockwerk“ der Anforderungen mithalten zu können.
  • Geht es für ein Kind zu langsam, weil es schon alles verstanden hat, schaltet es ab, da ihm langweilig ist und es verpasst dadurch den passenden Zeitpunkt, wieder einzusteigen.

Unsere Gehirne sind verschieden, sie nehmen verschieden wahr, verarbeiten verschieden und haben ganz verschiedenen Vorlieben und Fähigkeiten entwickelt.

Noch dazu braucht es bestimmte „Vorkenntnisse“ um eine neue Fertigkeit zu entwickeln. Im Fall der Sprache z.B. Feinmotorik, Phonetik, gesprochene Sprache, Lieder, Rhythmen, Reime, Sinneswahrnehmungen… Spielerisch entwickelt im alltäglichen Umgang mit einfühlsamen und aufmerksamen Menschen. Das Interesse, Sprache zu verschriftlichen und geschriebene Sprache zu entschlüsseln beginnt in der Sprachentwicklung der Kinder. Also eigentlich zu einem Zeitpunkt, zu dem sie sich im Kindergarten befinden. Das wird nicht beachtet, denn Schreiben- und Lesenlernen gehört ja in die Schule. Doch dann ist normalerweise das Zeitfenster schon zu. Manche Kinder kommen in die Schule und können schon sehr viel, andere kommen und haben noch nicht mal die genannten Basics. Wie soll dann ein gemeinsamer Unterricht funktionieren?

Wie oft sagen Eltern auch, dass sie eben in Mathe oder Rechtschreibung nicht gut sind, das nicht können. Haben sie deshalb früher gleich eine Diagnose bekommen? Kinder wollen wie ihre Eltern sein, also passen sich mache sogar hier an. „Toll! Ich bin wie Papa, der kann auch nicht gut rechtschreiben!“ Eltern sind die Vorbilder ihrer Kinder! ;)

Warum diese Stempel „gebraucht“ werden

Wenn ich mich emotional distanziere, kann ich verstehen, warum diese Stempel und Kategorisierungen vergeben werden. Dennoch finde ich es höchst gefährlich!

Werden also diese „von der Norm abweichenden“ Verhaltensweisen und Wissensstände beobachtet, beginnt die Fehlersuche. Leider gehen wir dabei vor, wie bei einer Maschine, die nicht funktioniert. Wir suchen DORT den Fehler, den Defekt. Selten wird nachgesehen, ob äußere Umstände das „Nichtfunktionieren“ ausgelöst haben.

Menschen sind keine Maschinen, sie sind sehr komplexe, individuelle und störanfällige Lebewesen! Share on X

 

Werden also beim Kind „Defekte“ gefunden/erfunden, dann sind die äußeren Umstände davon entlastet. Lehrer und Schule haben alles „richtig“ gemacht, Eltern haben nichts versäumt. Auch die Kinder fühlen sich entlastet, sie erfahren, dass es nicht an ihrem Üben oder ihrer Anstrengungsbereitschaft liegt; sie sind halt „defekt“. Es herrscht Erleichterung, dass man weiß, was für das Nichtkönnen verantwortlich ist. Großzügigerweise gibt es dann eine Notenentlastung. (Ich muss zugeben, dass diese tatsächlich eine Entlastung ist – doch das ist nur eine Sichtweise!).

Um Kindern in diesen Situationen helfen zu können, um Geld zur Verfügung zu haben, damit Hilfe bezahlt werden kann, braucht es in unserem System auch diese Diagnose. Der Gutschein sozusagen, Hilfe zu bekommen! Wie absurd!

Würde präventiv gearbeitet, bräuchte es hinterher keine „Reparatur“ durch Therapien. Share on X

 

Und genau das sind die Gründe, warum es solche Stempel gibt. Dass wir Menschen etwas wahrnehmen und dann bewerten um damit umgehen zu können ist in Ordnung. Die Frage ist nur WIE gehen wir damit um!

Wie gehen wir damit um?

Es mag noch so gut gemeint sein, wir stempeln die Kinder als defekt. Sie können ja nichts dafür, heißt es dann! Wer schaut genau hin, was so eine Diagnose mit einem Kind macht? Wie muss es sich anfühlen, gesagt zu bekommen, dass im Hirn etwas nicht so funktioniert wie bei allen anderen? Wie fühlt es sich an, nicht „normal“ zu sein?

Jeder möchte dazu gehören, jeder möchte „normal“ sein, so wie die anderen auch!

 

Stempel schließen aus, schlechte Noten schließen aus. Auch Sonderbedingungen schließen aus, wenn sie besondere „Vorteile“ im Gleichschritt sind! Kinder schämen sich deshalb. Mit Scham kann man nicht frei lernen und sich entwickeln.

Viele Kinder, v.a. Jugendliche versuchen, diesen Defekt zu überspielen und lenken die Aufmerksamkeit auf anderes. Oft auf Dinge, die sie wieder ins Abseits schieben; Klassenclown, besonders cool sein oder sie reagieren mit Aggressivität.

Sie einbinden und ihnen individuell Unterstützung anbieten können wir nur, wenn wir wahrnehmen, wie sich das Kind individuelle entwickelt, welche Stärken es hat und in welchen Bereichen es mehr Zeit braucht, oder eben andere Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten. So lange alle das Gleiche zur gleichen Zeit im gleichen Zeitraum machen müssen, werden wir niemandem gerecht und werden wir weiter abstempeln müssen! – Dabei geht es auch anders!

Warum ich gegen Therapien bin

Für Legasthenie wird sogar 2 Jahre Therapie bezahlt, obwohl es die Meinung gibt, Legasthenie sei nicht heilbar! Das macht mich wirklich ratlos!

Ich bin einfach dagegen, dass Kinder die Diagnose einer Störung aufgedrückt bekommen, für die sie nichts können. Unser Schulsystem fährt die Strategie, dass alle mit den Lernthemen begossen werden. Wer etwas aufschnappt hat Glück, alle anderen müssen sehen, wo sie bleiben, bzw. werden mit Störungen abgestempelt. Den Kindern wird damit suggeriert, bzw. ganz offen gesagt, dass sie etwas nicht können, dass sie eine „Störung“, haben, also „defekt“ sind. Sie bekommen eine „besondere Therapie“. Das entwürdigt sie, macht sie schwach und hilflos. Denn es muss ihnen von außen geholfen werden, sie können sich hier nicht selbst helfen, sie sind „hilfsbedürftig“. – Wer will das schon?

  • Jeder lernt anders, daher kann die EINE Methode gar nicht für alle passen.
  • Jeder lernt in einem anderen Tempo, daher kann der Gleichschritt nicht alle mitnehmen!

Das Einzige, was die verschiedenen Therapien zeigen ist, dass Schule den Lernanforderungen dieser Kinder nicht gerecht wird! In der Therapie wird spielerisch und mit anderen, kreativen Methoden an die Lerninhalte herangegangen. Das kann auch in einer Schule, in der individuell und mit dem 2-Lehrer-System gearbeitet wird, geleistet werden!

Ich bin mir bewusst, dass ich hier teilweise sehr hart und überzogen argumentiere. Doch mache ich deutlich, was oft nicht berücksichtigt wird! Und natürlich gibt es immer Ausnahmen. Doch die plötzliche Flut von Diagnosen macht mich wütend! Es sind nicht die Kinder, die es nicht können, es ist unser Schulsystem, das es nicht kann. Und da lasse ich auch die Ausrede nicht gelten, dass es ja für die Meisten schon passt! NEIN! Es wird niemandem wirklich gerecht!

 

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